Markus Stegmann
Die schweren und die leichten Glocken

1. Kapitel  |  Der Zustand der Nacht, als sie kam, unser Zögern aber im Gesicht schon erkannte
«Schöne Serenade», denken wir, als wir endgültig im Lehm feststecken ohne Postkarten und Seilwinden, vor allem aber ohne Hoffnung auf den nächsten Sommer. Keine Hilfe naht, niemand schenkt uns Pralinen.
Wir legen altes Geschenkpapier auf Keime und Sprossen, bemerken aber, dass wir uns getäuscht haben, dass es gar keine Keime und Sprossen sind, die uns abbilden, sondern Steinknollen und Faustkeile. Aber warum sollen wir mit ihnen streiten? Wir können plötzlich nichts Pflanzliches mehr an uns finden.
«Wie gelangen wir durch die kommende Nacht? Wo sollen wir schlafen? Und vor allem, wer deckt uns zu?» Das sind die Fragen, die uns jetzt bedrängen.
Einer von uns ruft: «Entzündet ein Licht, damit wir den Weg aus dem Lehm finden.»
«Recht hat er,» schreibt jemand mit schwarzer Kohle an den Himmel, ein anderer verteilt Fackeln. Schon lodert und flammt es hell, doch mit dem flackernden Licht zucken auch Kartoffeln im Boden und vage Vermutungen über unsere Herkunft.
Die Münder der Flammen möchten das «Was ist dieses Rundliche, die Kurvung, das abgeflachte Auslaufen?» etwas weicher abfedern und nicht so hart und kantig in der Welt stehen lassen.

2. Kapitel  |  Als eine Matratze dem Winter hätte helfen können, es aber unterliess
Wir streichen etwas Salbe in das schwarze Gesicht der Nacht und hoffen auf Einkehr in trockene Stuben.
«Kommt rein und legt euch nieder,» wünschen wir eine Stimme in der Finsternis zu hören, aber niemand ruft oder wartet auf uns, so angestrengt wir auch lauschen, nur eine Furcht hebt sich allmählich aus dem Inneren der Erde in die Luft und von der Luft in die Nacht und von der Nacht in unsere Augen, um sich von dort schliesslich ins gewölbte Grab unseres Herzens zu senken.
«Das Herz ist ja blind,» geht uns plötzlich durch den Kopf, «Es hat uns noch nie gesehen und weiss daher nicht, für wen es eigentlich schlägt.»
«Nein, keine Herzen, es müssen Knospen sein, Knospen oder Knollen.» Wir bilden eine Kolonne in der Nacht, damit wir nicht verloren gehen und steigen auf schmalen Pfaden immer tiefer ins Innere eines gut sortierten Orchesters.
Auf einer Lichtung bleiben wir liegen, in tiefem Moos, das weich und lieb zu uns ist, aber keinen Halt bietet. Bald darauf sehen wir Unsrige darin versinken, in der Weite eines Meeres, in blaugrünen Wogen.
«Nein, Schneckenhäuser und Perlen aus der Südsee sind es auch nicht, eher fremde, alphabetische Pilze.»
«Der Kragen, der in seinem Morgengebet getrockneten Fisch erwähnte, verweist auf Kieselsteine im Rhein.»
Der Fisch unserer Erinnerung findet aber keinen Halt, auch wenn wir ihn sorgfältig an den Rand unserer Suppenteller kleben. Er sieht etwas ungesund aus, beisst aber wenigstens nicht.
«Wenn es Ösen wären, könnten wir unsere Tomaten halbieren und auf langen Reisen ans milde Klima gewöhnen.» So versteinert ist mittlerweile unser Gewissen, so unsicher die Herkunft der Strasse.
Wir verschanzen uns in einem Uhrenkasten aus Angst vor Moos, Keimlingen und Schnecken. Einer von uns, der schreiben kann, notiert am nächsten Morgen, als abgestorbene Wicken ums Haus wehen: «Wenn die Nacht ein Bett wäre, hätten wir besser geschlafen.»
Ein aufgeschnittenes Brot auf dem Küchentisch bricht endlich die Kruste unseres Sehens.
Jemand fällt im Wald einen Baum, ein anderer kocht Tee, obwohl die Waldluft nie entzündet war. Wir haben Vermutungen, aber keine Beweise.
«Schalentiere?» dringt eine matte Stimme ans Ohr, aber wir schlafen bereits.
«Willst du unser Gewissen mit Schalentieren vergleichen?»
«Wenn wir stabilere Arme hätten, könnten wir die Matratze noch weiter in die Nacht hinausschieben und müssten nicht mit Schalentieren verhandeln.» Aber wer kauft uns in der Gegend hier eine Matratze ab? Ich kann keine Erklärung für diesen Hunger finden.
«Wenn es nicht Kugeln, sondern Bohrschnecken wären oder wenigstens Wurzelknollen, hätte der Winter uns Bernsteine um den Hals gelegt. Aber so ist mal wieder nichts draus geworden.»


3. Kapitel  |  Ein gemeisseltes Deckchen, aber zu wenig Abstand zum Denken
«Gib mir die Gabel, ich probier das mal.»
«Meine Tomaten führen in der Ecke der Welt ein besseres Leben, ein Leben ohne Gabeln.»
«Das ist pures Heu,» kommt mir in den Sinn, «Gutes Heu, weisst du, nicht so feuchtes, schimmliges. Ein prima Heu für diesen Tag, der heute Morgen grau wie eine Brücke in mein Rückgrat zu wachsen begann.»
«Ich hab dir immer gesagt, dass wir das nie begreifen werden.»
«Schau mal, da kommt ein kleiner Garten. Wir könnten zuerst etwas Strom sparen und dann in Ruhe den Rasen schälen. Vielleicht wächst das beste Fleisch unter der Grasnarbe.»
«Ja, wer weiss, ich weiss es nicht.»
«Ein Kompott ist kein Gehirn, obwohl es ebenfalls keinen inneren Halt hat und an einem Meeresstrand verloren wäre, verloren wie eine Qualle.»
«Sprich lauter und deutlicher, nicht so leise und piepselig.»
«Die Kartoffeln unserer Herkunft wurden in die Ecke geworfen und mit einem gemeisselten Deckchen abgedeckt, aber welcher Koch findet sie dort? Sie sehen so verloren und traurig aus, als hätten sie nie die Sonne gesehen.»
«Wer hat das Deckchen gemacht, und wo sind eigentlich unsere Tomaten?»
«Wir fragen mal unsere Verwandten.»
«Oder die Glocken.»
«Welche Glocken?»